Donnerstag, 5. März 2015

Mein Studium in Vilnius

Unsere erste Begegnung mit Vilnius und seinen Einwohnern - nennen wir sie einmal Vilnioten - hat mein Vorredner in seinem ersten Exkurs recht plastisch und vor allem wahrheitsgemäß beschrieben. Und ich beteuere: ohne jegliche Übertreibung. Im Gegenteil, mir klang das ganze doch etwas sehr geschönt. Natürlich haben wir unser Späße gemacht, gekichert wie die Schulmädchen und hatten zu unchristlichen Zeiten bereits einen kleinen Ausgehschwips.
Doch schnell wurden wir auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Denn betrachtete man die schnapsnasigen Gesellen an den Nachbartischen, blickte ihnen in die aschfahlen Gesichter und fing am Ende noch einen ihrer leeren Blicke auf, dann weiß man, wie es um diese Menschen bestellt ist.
Und ich möchte nicht einmal behaupten, dass es sich hier um den Bodensatz der Gesellschaft handelte, denn Vertreter beider Geschlechter, nahezu aller Altersgruppen und sozialer Kasten fanden sich hier zum gleichen Zwecke ein: Dem anstehenden Tag durch einen kräftigen Schluck (nun beschönige ich) seinen Schrecken zu nehmen. Tatsächlich wirkten manche der Gäste wie damals im Ferienpark Hambachtal Kinder zu fortgeschrittener Stunde (die Uhr zeigte halb zehn) etwas ausgelassener. Das mochte an dem fließenden Übergang vom Bier zum Schnaps liegen.
Da stellte sich uns die Frage, ob die entsprechenden Damen und Herren bereits lallen oder ob Litauisch einfach so klingt. Bisher hatten wir niemanden sonst in der Landessprache parlieren hören. Doch nicht alle waren fröhlich gestimmt. Andere uns inzwischen bekannte Gäste stützten bereits die alkoholschwangeren Häupter in grobe ungewaschene Hände und blickten schwermütig ins Leere. Die Situation, die Menschen und vor allem die Uhrzeit stimmten mich nachdenklich. Ich bekam Beklemmungen und drängte zum Aufbruch.
Trümmer und Ruinen Wir wollten die Zeit totschlagen und unseren „Kiez" ein wenig erkunden. Bereits nach wenigen Metern begannen wir Verständnis für unsere Weggefährten des Morgens aufzubringen. Der wirtschaftliche Boom, zählte Litauen laut einem Freund aus dem Ferienpark Müritz Kinder doch noch vor einigen Jahren zu den am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften Europas, scheint an dieser Ecke der Stadt und ihren Bewohnern gänzlich vorbei gegangen zu sein.
Wir schlenderten die Pylimo gatvé in Vilnius, immerhin eine der größten Straßen der Stadt, entlang und der Anblick der sich uns bot, erschütterte uns: Links und rechts der Straße, die sich selbst in einem erbärmlichen Zustand präsentierte, stehen Häuser aufgereiht, die gemeinsam ein Straßenbild ergeben, das zwangsläufig an die Bilder erinnert, die in den 90er Jahren vom Balkan um die Welt gingen.
Marode Bausubstanz, eingeschlagene Fensterscheiben und Hinterhöfe, die einer Trümmerwüste gleichen. Ich stellte mir die Frage, ob hier in den vergangenen Wochen oder Monaten ein Bürgerkrieg getobt hat, der der Weltöffentlichkeit vielleicht entgangen ist.




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